Schauen wir uns den Scharnberg-Stammbaum näher an, entdecken wir, dass einige Scharnbergs und ihre Familienangehörigen, manchmal mit angeheirateten anderen Familiennamen, die Welt außerhalb des Heimatortes Trittau "eroberten", sei es aus Tatendrang, aus Abenteuerlust oder aus der Not heraus, das nötige Brot wegen wirtschaftlicher Probleme oder Armut am Geburts- und Heimatort nicht mehr verdienen zu können. Ich denke besonders an die Scharnberg-Auswanderer nach Brasilien, Bolivien, Ekuador, Argentinien und den USA, deren Nachkommen dort z.T. zahlreich leben.

Es mag ja schon ein wenig abenteuerlich gewesen sein, dass mein Urgroßvater KARL Heinrich Friedrich Scharnberg, geb. 1851 in Trittau, von Trittau nach Hamburg "ausgewandert" war. Er begann als Kellner, wurde dann Gastwirt mit eigener Gastwirtschaft in in der ABC-Strasse. So wurde die „Hamburger Scharnberg-Linie“ gegründet. Karl Heinrich Friedrich heiratete Anna Maria Schacht. Und wenige Jahre später spielten deren fünf Kinder schon Fangen in der elterlichen Gastwirtschaft. Leider verstarb der zweitjüngste Sohn Franz schon als Kind infolge einer Krankheit, und auch mein Urgroßvater Karl Heinrich Friedrich starb schon früh im Alter von 44 Jahren. Meine Urgroßmutter heiratete später noch einmal, und zwar den Schornsteinfegermeister Schilling, dem das Haus Böhmersweg 5 in Hamburg-Rotherbaum gehörte. Auch ihn überlebte sie und da ihre Ehe kinderlos geblieben war, erbten ihre Kinder aus 1. Ehe das Haus Böhmersweg.

Meine Großmutter Hermine Maria Margaretha Scharnberg, geb. 1883 in Hamburg, war wohl das Nesthäkchen, nämlich die einzige Schwester unter älteren Brüdern. Alle Kinder gingen in Hamburg zur Schule, die Brüder beendeten kaufmännische Lehren, während meine Großmutter sich im Haushaltswesen schulisch und auch privat ausbildete. Sie pflegte außerdem den musischen Bereich, spielte Theater und nahm Klavierstunden in der Milchstrasse am Konservatorium, sozusagen gleich um die Ecke.

Hamburg als Tor zur Welt ermunterte die Brüder, ihre Heimatstadt zu verlassen, um woanders das große Glück zu finden. Der älteste, Carl, arbeitete viele Jahre in Spanien, einer seiner Söhne, Robert, später Roberto genannt, wanderte noch vor Beginn des 2. Weltkrieges nach Bolivien aus, lebte dort etwa 30 Jahre, emigrierte von dort mit Ehefrau und Tochter nach Argentinien, wo er 1994 verstarb. Seine Ehefrau und die Nachkommen leben noch heute in Buenos Aires und im Landesinneren.

Die beiden jüngeren Brüder Robert und Alfred ließen sich im vitalen Alter von eben um die 20 Jahre herum in Paris nieder. Sie wagten den Versuch, im Schiffsversicherungswesen dort zu Brot und Wohlstand zu kommen, was ihnen wohl zunächst auch gelang, wie mir meine Großmutter immer wieder versicherte. Vermutlich war der Kontakt zu Hamburg ständig geschäftsmäßig erhalten geblieben. Das Wilhelminische Deutschland nahm wirtschaftlichen Aufschwung, Reedereien, insbesondere Hamburger und Bremer sorgten für vermehrt aufkommenden Schiffsverkehr über den Atlantik nach Nord- und Südamerika. Der Gütertransport nahm zu und auch die Auswandererschiffe konnten sich nicht über Mangel an Passagieren beklagen. Selbstverständlich profitierten davon auch die Schiffsversicherungsgesellschaften.

Es war sicherlich nicht ganz leicht, sich als Deutscher in diesen Zeiten&xnbsp;in Paris niederzulassen. Die Diskriminierung der Franzosen gegenüber Deutschen setzte bereits nach dem verlorenen Krieg von 1870/71 schleichend ein. Viele schon eingebürgerte Deutsche, auch gut situierte Deutschstämmige, wurden immer mehr ins Abseits gedrängt. Ganz besonders schwer hatten es später die unzähligen deutschen „Dienstmädchen“ (wie sie in dieser Zeit genannt wurden), die als besonders verlässlich und tüchtig eingestuft wurden und wohl den ganzen Dienstleistungssektor von Paris „in der Hand hatten“. Sie alle wurden im Sommer 1914 vor Beginn des 1. Weltkrieges spontan ausgewiesen, um nicht interniert zu werden. Obwohl der deutsche Handwerkerstand, eingewandert zu Beginn des 19. Jahrhunderts, anfangs noch einen guten Ruf hatte und dessen Arbeit geschätzt wurde, litten auch diese Handwerker unter der zunehmenden Deutschfeindlichkeit. Dazu kamen noch sehr viele ungelernte Deutsche, die als Straßenfeger, Lumpensammler oder Tagelöhner in Paris ihr Leben fristeten und dort in die Armensiedlungen abdrifteten.

So erforderte es wohl doch viel Mut (oder war es Naivität und Leichtsinn?) von Robert und Alfred, sich in Paris beruflich und privat durchzusetzen. Und in der Tat bewiesen der Wohnort, das Haus und die Wohnung und das nötige „Kleingeld“, dass es ihnen offensichtlich gelungen war, sich beruflich und wirtschaftlich in Paris zu behaupten. Ja, die Geschäfte liefen offenbar sehr gut. Wie meine Großmutter mir erzählte, wohnten die beiden zunächst zusammen in der Strasse Rue Marbeau Nr. 8 im Stadtteil Ternes, nicht weit entfernt von der&xnbsp;Avenue des Champs Elysée und dem Triumphbogen, ganz in der Nähe des Platzes Porte Maillot. Es war begehrt, dort zu wohnen und es kostete auch wohl dementsprechend viel.

Die Rue Marbeau gilt auch heute noch als bevorzugter Wohnort des wohlhabenden Pariser Bügertums innerhalb des Stadtzentrums. In dieser Strasse befindet sich jetzt u. a. eine der Filialen der Deutschen Botschaft. Alfred und Ehefrau Rita Scharnberg zogen um in einen ebenfalls sehr begehrten Wohnort Wohlhabender ganz in der Nähe des Pariser Zentrums: in den Vorort Le Vèsinet, nicht weit entfernt von St. Germain-En-Laye.

Meine Großmutter wurde von ihren Brüdern häufig nach Paris eingeladen, wie sie mir erzählte. Es war auch schon mal so, dass sie abwechselnd einige Monate aufeinander folgend in Paris war, wenn nicht ein bis zwei Jahre zusammenhängend. Aus ihren Erzählungen weiß ich mich allerdings nicht mehr genau zu erinnern, ob unsere Oma nicht auch dort in Paris im Bereich Kindererziehung, Haushaltsführung, Französischlernen, Deutschunterrichten oder sonst wie tätig war, zumindest wohl im Haushalt der Brüder. Etwas Französisch hatte sie auch gelernt. Sie wird auch das kulturelle Leben in Paris durch regelmäßige Theater- und Konzertbesuche genossen haben wie schon als junges Mädchen in Hamburg. Leider wurden diese glücklichen Zeiten in ihrem Leben immer weniger, denn sie verlor durch eine Krankheit ihr Gehör und war schon vor der Geburt meines Vaters (1914) zu 100% taub. Sie starb 1973 im hohen Alter von 90 Jahren.

Die Vorahnung auf das Gespenst des 1. Weltkrieges erfasste auch Paris. Es muss alle tief getroffen haben, Paris im Sommer 1914 vor dem bevorstehenden 1. Weltkrieg verlassen zu müssen. Verhaftung und Internierung drohten, alle Deutschen wurden enteignet und ausgewiesen. Die Scharnbergs verließen also Paris, ihren Besitz, das Vermögen, das ganze Hab und Gut zurücklassend. Robert ging nach Hamburg zurück, Alfred und Rita mit dem inzwischen geborenen Sohn Freddy wanderten nach Amerika aus und ließen sich in New York nieder.

Aus Alfreds vielen Briefen las meine Großmutter nicht viel Gutes heraus. Alfred machte anfangs im Bereich Versicherungen weiter. Die Geschäfte litten aber stark unter der amerikanischen Wirtschaftsdepression von 1929-1932, so dass er wie auch sein Bruder in Deutschland erhebliche finanzielle Einbußen erlitt. Dennoch schickte Alfred meiner Großmutter und seinen Brüdern amerikanische Lebensmittelpakete nach dem 2. Weltkrieg, was sicherlich die Sorge um das Wohlergehen und die Liebe zu den Geschwistern unterstrich.

Robert Scharnberg gründete später in Hamburg eine Familie mit seiner Frau Ottilie, Alfred Scharnberg heiratete in New York erneut nach Ritas Tod, aber er verarmte immer mehr. Aus den Briefen seines Sohnes Freddys erfahren wir, dass sein Vater Alfred die letzten 20 Jahre von der amerikanischen Fürsorge leben musste. Er überlebte auch seine zweite Frau und wurde 1954 in New York tödliches Opfer eines Verkehrsunfalls. Er wurde von einem Auto überrollt. Den Tod, die Auflösung der Wohnung und die Beerdigung schildert sein Sohn Freddy in einem ganz traurigen Brief an meine Großmutter. Die einst glanzvollen Zeiten in Paris verblassen, wenn man von Freddy im Brief liest, dass Alfred neben vielem Gerümpel nur noch 2 Dollar 30 Cent als Erbschaft zurückließ.

Im Januar 2006 habe ich in Paris während einer kleinen Reise die oben beschriebenen Wohnorte besucht, fotografiert und versucht, nach etwa 100 Jahren nachzuvollziehen, wie „unsere“ Scharnbergs hier wohnen und arbeiten konnten. Wenn ihre Zeit in Paris auch nicht sehr lang war, vielleicht 10 bis 15 Jahre, so war es für die Betroffenen doch bestimmt eindrucksvoll, in schönen Wohngegenden von Paris zu leben, mit einem wunderbaren kulturellen Angebot und sehr schönen Parks rund um ihre damaligen Wohnstätten.

Die wirtschaftliche Lage und eigenes Können ermöglichten es ihnen damals, sich die ersehnte Lebensqualität in der Fremde zu erarbeiten. Gönnen wir ihnen den Erfolg und das Glück, auch wenn es nicht von sehr langer Dauer war.

Hasso Bensien, Februar 2006